9. November 1989
(Die falsche Erinnerung, Teil 2)

  

Der 9. November 1989 war für mich ein Tag der Freude. Und zwar weniger im übertragenen Sinne oder erst am Ende dieses Tages, irgendwo auf einer dunklen, novemberkalten Straße. Sondern schon am Morgen. Denn am 9. November 1989 erschien zum ersten Mal ein Artikel von mir im Berliner „Tagesspiegel“ – damals längst ein zu recht angesehenes Blatt, die einzige West-Berliner Tageszeitung neben der Springer-Presse, der ewigen Schülerzeitung „taz“, dem kleinen Spandauer „Volksblatt“ und der „Wahrheit“. Letztere das Organ des West-Berliner SED-Ablegers SEW, das kaum jemand las und das fast überall nur unter dem Ladentisch zu haben war – nicht weil die Nachfrage so groß gewesen wäre, sondern weil kaum jemand das Blättchen von „denen“ da „drüben“ offen feilbieten und so womöglich noch dessen Verkauf fördern wollte. Ich also hatte es in den „Tagesspiegel“ geschafft. Indem ich einfach mal einen Text hingeschickt hatte – natürlich per Brief –, samt Hinweis auf meine bisherige Tätigkeit als freier Journalist. So einfach war das damals. In den Redaktionen war man an guten, interessanten Beiträgen interessiert. Und gern auch daran, sich Nachwuchsautoren zu sichern.

Abends um sieben wohnte die Familie, meine Wenigkeit eingeschlossen, dann wieder einmal voll Freude einer Feier des Kapitalismus bei – in Gestalt des „Glücksrads“ auf Sat 1, wo für damalige deutsche Fernsehverhältnisse unglaublich große Gewinne eingesackt werden konnten. Ein Farbfernseher, ein Videorekorder, ein Waschvollautomat, ein duftes Kochtopfset, ein soundsovielteiliges Kaffeeservice – mutmaßlich aus der Oberpfalz –, womöglich eine Polstergarnitur, eine Reise, und obendruff noch ’ne Kaffeemaschine: Unfaßbar! Das hatte es noch nicht einmal an Rudi Carrells Laufendem Band gegeben, wo man immerhin auch das Fragezeichen gewinnen konnte – allerdings erst, nachdem man sich durch einen ganzen Samstagabend gespielt hatte, nicht nur durch eine popelige Buchstabenraterunde. Besonders große Wollust erzeugte diese Konsumorgie durch den Gedanken daran, daß all diese Gegenstände „drüben“ noch um einiges teurer wären, vermutlich schwer zu kriegen außerdem. Daß sie dagegen im kapitalistischen Kommerzfernsehen mal eben so verteilt werden konnten, und das Vorabend für Vorabend, bewies ja wohl ein für allemal, daß das westliche System dem östlichen haushoch und absolut uneinholbar für alle Zeiten überlegen war.

Das „Glücksrad“, dekoriert mit, als Buchstabenumdrehfräulein, der reizenden Maren Gilzer, welche bei uns nur „Maren Glitzer“ hieß und die dankenswerterweise nur in Jubiläumssendungen den Mund aufmachte, fing um 19 Uhr an – oder sogar etwas früher? Jedenfalls endete es gegen 19.30 Uhr. Die „Abendschau“ des Senders Freies Berlin, damals noch im ersten Programm (es gab mal Regionalprogramme im „Ersten“ und übrigens auch interessante, unterhaltsame, zuweilen gar in Maßen anspruchsvolle Vorabendserien, nicht nur Endlosseifenopern), startete um 19.25 Uhr. Als wir umschalteten, lief die Sendung also schon. Und es lief ein knapp eine halbe Stunde alter Ausschnitt aus Schabowskis Pressekonferenz. Was hatte uns der Bonze da sagen wollen? Sollte es das nun wirklich gewesen sein, mit Mauer, mit SED-Diktatur, aber dann ja auch mit West-Berlin, dem hoch subventionierten Sozialzoo der Bundesrepublik? Konnten jetzt alle raus, die keine Lust mehr hatten, länger als Versuchskaninchen am Experiment „real existierender Sozialismus nach Art von Marx, Lenin und letztendlich auch Stalin“ teilzunehmen? Sollte es volle Reisefreiheit geben? War die Mauer auf? Würde sie auf bleiben? Und wenn ja – wozu wurde die Mauer dann noch gebraucht? Wie wollte die DDR ohne eine ihrer beiden Überlebensversicherungen weiterexistieren? Und wie würde die andere Überlebensversicherung reagieren: die sowjetischen Truppen?

Als gelernter West-Berliner war man Mißtrauen gewohnt. Und vor allem, daß man von „den Brüdern da“, die unsere „Brüder und Schwestern“ gefangen hielten, nicht viel zu erwarten hatte. Insbesondere nicht viel Gutes. Auch noch nicht Anfang November 1989, als keineswegs klar war, welche Zugeständnisse sich die SED würde abringen lassen, und zwar dauerhaft. Als West-Berliner hatte man sich mit den Verhältnissen arrangiert, notgedrungen. Gemäß des klugen Schlußsatzes von Wolfgang Neuss’ unterschätztem Film „Genosse Münchhausen“: „Wenn wir nicht gestorben sein wollen, werden wir erstmal so leben müssen.“ Aber „den Osten“ mochte man – was die dortigen politischen Verhältnisse anging – deshalb noch lange nicht. Im Zweifelsfalle ignorierte man die Zustände einfach. Insbesondere viele Linke taten dies, deren Weltbild andernfalls ins Wanken geraten wäre, allein schon weil sie hätten zugeben müssen, daß die Bundesrepublik vielleicht kein gutes, aber, verglichen mit der grauen, erstarrten Diktatur DDR, doch das bessere System ist. Zumindest das besser funktionierende, das sogar so gut funktionierte, daß Kritik an ihm über Jahrzehnte hinweg wohlfeil abgebügelt werden konnte mit dem legendären Ausruf: „Na, dann geh doch nach drüben!“

Also, wir waren skeptisch. Und selbst in den „Tagesthemen“, die damals verläßlich um 22.30 Uhr begannen, wußte man noch nichts ganz Genaues zu berichten. Als eine Stunde später die Dämme wirklich brachen, lagen viele West-Berliner vermutlich schon im Bett – damals hatten die meisten Menschen ja noch Arbeit, und zwar eine, von der man zumindest halbwegs komfortabel leben konnte. Als sich im Laufe der Nacht abzeichnete, daß dies wohl wirklich das Ende der Mauer wäre, daß dies dann wohl auch wirklich das Ende der SED-Diktatur wäre, dachte ich: Schon wieder ein 9. November, an dem in Deutschland etwas Wichtiges passiert.

Zahlreiche West-Berliner, die keinen Hang oder Zwang zur Nachtarbeit haben, dürften, insbesondere wenn sie nicht in der Nähe eines Kontrollpunktes an der Sektorengrenze oder des Ku’damms lebten, das historische Ereignis einfach verschlafen haben. Aber sowas taugt natürlich nicht für den medialen Erinnerungsrummel, der in fünf und in zehn Jahren wieder über uns hereinbrechen wird – ergänzt durch den Erinnerungsrummel zum fünfzigsten Jahrestag des Mauerbaus 2011. Begibt sich Bedeutsames, so muß dies den Menschen augenblicklich bewußt sein und bei ihnen bedeutsame Gefühle auslösen – in der heute insbesondere die Medien dominierenden und von ihnen beförderten Vorstellungswelt des kleinen Moritz (nicht nur wenn dieser zuviele Seifenopern gesehen hat und seifenoperngerecht knoppisierte „Dokumentationen“). Selbst wenn dieses Bedeutsame nicht kintopp- und bestsellergemäß ausgelöst wurde durch große, ausgeklügelte, strategische Planungen einer Weltverschwörungs- oder sonstigen Zentrale, sondern wieder einmal durch ein Versehen, einen Fehler im Kommunikationsfluß, neun ohne viel Nachdenken gesprochene Wörter: „Das tritt – nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“

Wer da nicht gleich Bescheid weiß, wer da nicht umgehend ergriffen ist, wer dann später so wenig zu erinnern hat, dessen Erinnerungen sind irrelevant, selbst zur Komplettierung des Gesamtbildes. Man darf von der Maueröffnung nicht erst am nächsten Morgen erfahren haben, als man zum Frühstück SFB oder RIAS einschaltete – Radio, wohlbemerkt. Denn daß am frühen Morgen etwas in der Glotze lief, war höchst ungewöhnlich, Frühstücksfernsehen noch eine bizarre, ferne Idee aus Amerika. So lange ist das alles schon her.

 

Veröffentlicht zum 9. November 2009.

 

 

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